Erfolg gezogen, Romane, Filme, das Kriminalgenre, Groschenhefte, Comics, Fantasy.
Dieses weite Feld bestellt auch einer der erfolgreichsten zeitgenössischen italienischen Autoren. Carlo Lucarelli schreibt schnell, gut, intelligent und unterhaltsam. Das können andere auch. Was seine fünfzehn Romane in zehn Jahren aber unterscheidet (und auszeichnet): Sie sind immer auch in einer zweiten, tieferen Hinsicht lesbar. Das jüngste Beispiel in deutscher Übersetzung heißt "Laura di Rimini". Sie studiert im vierten Semester Literatur in Bologna und besetzt in diesem Gangsterstück die Rolle der Unschuld; groß, brünett (nicht blond!), hübsch, in Jeans, Turnschuhen und Polohemd. Der Part des Guten wird ihr zeitgemäß zugeteilt: unauffällig normal und anständig.
Neben ihr, ebenso selbstverständlich, die perverse Normalität des Verbrechens. Durch einen Zufall verstricken sich die beiden so unterschiedlichen Welten ineinander. Auf einer Abschlußfeier verwechselt Laura ihren Rucksack. Statt mit ihren Habseligkeiten hat sie es jetzt mit vier Kilo reinstem Heroin zu tun. Der regionale Großverbrecher läßt die Unschuld verfolgen, und die Geschichte hat ihr bewegendes Problem: Wie reagiert ein "gutes" Mädchen auf diese Bedrohung durch das Böse? Die Pointe: ganz anders, als zu erwarten war. Gewiß, wie sollte sie keine Todesängste ausgestanden haben, "nachdem man auf sie geschossen hat, nachdem man an ihr herumgeschnippelt, sie verfolgt, gefesselt, gefoltert hat, nachdem sie eine Woche auf einer Raststätte gelebt, sich für einen (impotenten) Psychopathen ausgezogen und wer weiß wie viele Menschen sterben gesehen hat"? Das Wie und Was sollte der Lektüre vorbehalten bleiben.
Das Genre will in aller Regel, daß die "Unschuld" unbeschadet von ihrem Gang durch die Hölle zurückkehrt. Doch wie? Die erste Antwort ist eindeutig und hat ein wenig von der unerträglichen Leichtigkeit der Comic strips. In höchster Not greift stets ein deus ex machina ein, der rettende Zufall. Doch er hat, in zweiter Hinsicht, Methode. Das organisierte Verbrechen, so gibt Lucarelli zu verstehen, gerät in eine tödliche Krise, wenn seine Organisation nicht perfekt funktioniert. Eine solche Störung löst Laura aus. Die Agenten des Kartells verlieren die Ordnung und bringen sich selbst oder gegenseitig um - eine moderne Spielart der schönen, melodramatischen Illusion, daß das Böse sich zuletzt selbst zerstört.
Doch nicht darauf kommt es dem Autor an. Augenzwinkernd gibt er zu verstehen, daß, wer sich kadavergehorsam einer Ratio verschreibt, sich zum Klischee macht. Zum Zeichen dafür läßt er einige seiner Schurken mit burlesken Mickey-Mouse-Masken vorgehen. Andernorts zeigt er ihr wahres Gesicht dahinter: In Wirklichkeit leben sie wie in (Kriminal-)Filmen, die für sie die Wirklichkeit sind. In ihrer Welt geht Fiktion in Realität und Realität in Fiktion über. Mit anderen Worten: Sie können nicht mehr unterscheiden. Mit dem bittersüßen Nebeneffekt, daß auch der Roman über sie selbst wie ein Film geschrieben ist.
Laura aber überlebt - aus demselben Grund, warum ihre Gegner umkommen mußten. Natürlich kannte sie die massenhaften Verabreichungsformen von Kriminalität; die Blockbuster-Videos eines Freundes oder auch den einen oder anderen "Derrick" (!). Aber, so heißt es wiederholt, sie lehnte sie ab. Das war ihre Überlebenschance: Sie spielte die Hauptrolle in einem Thriller, hielt sich aber nicht an seine Dramaturgie. Wie sie reagieren würde, war für das Gegenspiel dadurch unvorhersehbar, so sehr, daß es glauben mußte, sein Film sei gerissen. Dieser Albtraum hat jedoch auch ihre Normalität verändert. Sie konnte zwar immer noch lächeln. Doch ihr Blick wurde, wenn es darauf ankam, "ernst und böse". Das ist Lucarellis Medienkritik durch die dunkle Brille des Verbrechens hindurch. Viel "Gutes" bleibt dabei nicht übrig. So viel immerhin: "Keine Sorge", sagt Laura zum Schluß, "ich komme immer durch." Normal also ist, wem es gelingt, sich die Fiktionen vom Leibe zu halten, die sich als Realität ausgeben.
WINFRIED WEHLE
Carlo Lucarelli: "Laura di Rimini". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Peter Klöss. DuMont Buchverlag, Köln 2004. 106 S., br., 9,90 [Euro].
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